Digitale Erschließung des Garfinkel-Nachlasses

Das Forschungsprojekt wird das Archiv des Begründers der Praxeologie in digitaler Form zur Verfügung stellen. Schon zu Lebzeiten Harold Garfinkels (1917–2011) war sein Archiv ein Mythos, da es in seiner netzwerkartigen und zugleich sequentiellen Organisationsstruktur den wissenschaftlichen Anspruch der Praxeologie dokumentierte und bis heute eine wichtige Ressource für Gegenwartsforschung geblieben ist. Das Archiv umfasst Dokumente im Umfang von ca. 1 Million Papierseiten, ca. 1000 Videodokumentationen und ca. 2000 Tonaufzeichnungen aus Interviews und wissenschaftlichen Diskussionen mit den führenden Wissenschaftlern jener Zeit. Das frühe Schaffen Garfinkels ist weitgehend unbekannt und unerforscht, da nur ein Bruchteil seiner Schriften veröffentlicht wurde. Gleichwohl waren seine unveröffentlichten Manuskripte durch ihre interne Zirkulation bereits historisch wirkungsvoll, z.B. das Manuskript „Towards a Sociological Theory of Information“, das im Archiv von Erving Goffman wiederentdeckt wurde.

Die Praxeologie, wie sie von Garfinkel geprägt wurde, kann als wissenschaftstheoretische Grundlage für eine Reihe von Disziplinen dienen. Das betrifft das Feld der Sozial- und Medienforschung unter Einbeziehung der Rechtswissenschaft, Gender Studies, Technikforschung und HCI, für die Garfinkel Grundlagenforschung betrieben hat. Das betrifft insbesondere aber auch die Analyse und Beschreibung von Sensortechnologien. Garfinkel hat sich bereits in den 1950er Jahren mit der vollumfänglichen Erfassung von Situationen durch „sensory media“ befasst. Zudem bietet es die Möglichkeit, auf zentralen Forschungsfeldern der Digital Humanities vorzustoßen.

Das innovative Forschungspotential erschließt sich auf drei Ebenen:

1. Digitalisate – gelebte Dokumente
Der praxeologische Ansatz, den Garfinkel vertritt, stellt die grundlegende Frage: Was ist unter digitalen Bedingungen ein Dokument? Im Sinne Garfinkels ist ein „gelebtes Dokument“ dazu in der Lage, selbst seine Entstehung, Genese, Verteilung, Veränderung und Transformation zu offenbaren. Dies stellt besondere Anforderungen an die Erstellung der Digitalisate, die von Innovative Document Imaging erstellt werden:

2. Datenbankontologie und -modellierung
Die Praxeologie geht zudem von einem nutzerorientierten Verständnis der Datenorganisation aus, das sich an relationalen Datenbankmodellen orientiert. Entsprechend sollten die Digitalisate in einer Graphdatenbank zusammengeführt werden, in der alle Knoten den gleichen ontologischen Status haben. Dadurch eröffnen sich nicht nur Möglichkeiten, klassische Editionstypen in digitaler Form zu simulieren, sondern die verfügbaren Daten neu zu verknüpfen. Das Garfinkel-Archiv bietet hierzu besondere Voraussetzungen, da sämtliche Video-, Ton- und Textdokumente, die das Korpus der Ethnomethodologie bilden und an der Entstehung der Praxeologie beteiligt waren, lückenlos vorliegen. Durch die Verknüpfung unterschiedlicher Dokumentenarten ist eine solche digitale Edition daher in der Lage, das Leseverständnis der komplexen praxeologischen Texte zu erhöhen und einen wissenschaftlichen Mehrwert zu schaffen.

3. Situationsbezogener Zugang
Gemäß Garfinkels eigener informations- und kommunikationstheoretischen Vorstellung basiert jedwedes Netzwerk, so groß es auch sein mag, auf einem lokal und situativ verorteten Zwei-Personen-Netz. Der Anspruch der Praxeologie ist es zudem, eine Situation möglichst vollständig zu erfassen und zu repräsentieren. Entsprechend sollte ein Zugang zum Archiv bzw. zu einer digitalen Edition, die Garfinkels eigenen Ansprüchen gerecht werden will, in Form eines situierten Conversational Interface und einer drei-dimensionalen VR-/AR-Darstellung (Holospace) geschehen. Hieran schließt sich weitere Grundlagenforschung im Bereich der HCI an. Conversational Interfaces zählen zu den zentralen Zukunftstechnologien einer mobilen digitalen Gesellschaft.

Die praxeologischen Forschungsziele erstrecken sich somit auf drei Ebenen: (1) Auf inhaltlicher Ebene bietet das Harold Garfinkel Institut Zugang zu bislang unveröffentlichten Büchern und Manuskripten. (2) Auf der Vermittlungsebene eröffnet sich durch einen kontext- und situationsbezogenen Zugang ein besseres Textverständnis der Schriften Garfinkels. Die Digitalisierung des Archivs ist deshalb (3) nicht nur unter methodischen oder technischen Aspekten von Interesse, sondern im Sinne einer reflexiven Digitalisierung auch in Bezug auf die Implikationen für die Analyse digitaler Praktiken und die Gestaltung digitaler Infrastrukturen.